Züge folgen im Minutentakt aufeinander, Schiff um Schiff fährt auf dem Strom, die Autobahnen sind oft verstopft: Wer die Zeitenwende in der Mobilität konkret erleben will, reist am besten ins deutsche Oberrheintal. Im wichtigsten Transportkorridor Europas ist der Verkehr an der Kapazitätsgrenze. Zumindest auf der Schiene aber öffnet sich schon der Blick in die Zukunft: Der milliardenteure Ausbau der 182 Kilometer langen Bahnverbindung zwischen Karlsruhe und Basel begann 1987: Zwei neue Streckengleise für höhere Geschwindigkeiten, neue Signaltechnik. 2042 soll er fertig sein. Inzwischen plant und entwickelt die Infrastrukturgesellschaft der Deutschen Bahn, die DB Netz AG, das Projekt in einem digitalen Großlabor, wo modernste Technik auf fortschrittlichste Methoden des Projektmanagements trifft.

Das fällt schon beim Verlassen des Aufzugs im Karlsruher Bürogebäude auf: Auf 600 Quadratmeter erstrecken sich moderne Büros mit flexiblen Arbeitsplätzen, Meeting- und Präsentationsbereiche sowie Spezialräume mit Namen wie „Think Tank“ und „CAVE“. Letzterer steht für Computer Aided Virtual Environment und ist eine Art Höhle für dreidimensionale Projektionen. Von der Idee bis zur Inbetriebnahme des Labors Anfang 2019 hat es rund zwei Jahre gedauert. „Die Basis dafür ist das sogenannte Building Information Modeling, kurz BIM – also das Arbeiten mit digitalen Zwillingen der Projekte“, erläutert Sascha Björn Klar, Leiter Building Information Modeling. Ab 2020 will die Deutsche Bahn alle neuen Bauprojekte mit BIM erstellen.

Am Anfang der Digitalisierung des Großbauprojekts Karlsruhe – Basel stand die Datensammlung. Zur Komplettierung bestehender Unterlagen hoben vor Ort Hubschrauber und Drohnen ab, um die Topografie dreidimensional zu erfassen, unterstützt von Laserscannern am Boden. Eine riesige Datenbank entstand, die immer weiter wächst. „Eine Herausforderung stellen aktuell noch die Datenmengen dar, die bei der digitalen Bestandsaufnahme für ein Großprojekt entstehen“, sagt Katarina Roth, BIM-Referentin bei der DB Netz AG. Aus den Daten wächst der „digitale Zwilling“ der bestehenden und künftigen Infrastruktur. Er enthält alles vom gepflegten Einfamilienhaus in Nachbarschaft zum Bahndamm über die Ausstattung der Trasse mit Leit- und Sicherungstechnik bis zu Überflutungsgebieten bei Rheinhochwasser oder der Planung der noch nicht gebauten Bahnstrecke.

Die kreative Arbeit beginnt im Ideenraum. Unterstützt von flexibler Möblierung – bunt gepolsterten Hockern aus einem wandhohen Regal – und einem großen Whiteboard, entstehen Konzepte in Teamarbeit oder werden mit agilen Methoden weiterentwickelt. Das bildet die Basis für konkrete Projekte, die im benachbarten Großraumbüro so konkretisiert werden, dass sie sich möglichst komplikationslos zunächst in die virtuelle und später in die reale Umgebung der Neubaustrecke einfügen.

Hier setzte die Zusammenarbeit der DB Netz AG mit Porsche Consulting an. Der Auftrag an die Managementberater: Planung und Bau von Großprojekten um 25 Prozent beschleunigen. Je eher ein Schienenprojekt fertig ist, umso eher fließen auch die Trasseneinnahmen. Die müssen die rund 380 Bahngesellschaften bezahlen, die auf den Schienen der DB Netz AG im Personen- und Güterverkehr unterwegs sind. Sie liegen zwischen 1,73 und 11,90 Euro pro Trassenkilometer je nach Zuggattung und Streckenqualität.

Als „groß“ gelten Projekte von Neu- und Ausbaustrecken, deren Kostenrahmen 250 Millionen Euro übersteigt. „Davon gibt es in Deutschland mehr als 100“, sagt Philipp Langefeld, Leiter Projektmanagement und Technik des Großprojektes Karlsruhe – Basel. Das mache die Bahn zum größten Bauherren Deutschlands. Durchschnittlich vergehen von Auftrag bis Realisierung 20 Jahre. Die Porsche-Berater rieten unter anderem zu agilem Projektmanagement: Statt hierarchisch streng abgestufter Abarbeitung werden Interaktionen zwischen allen Stakeholdern gefördert. Dazu kommen ständige Abstimmung und Rückversicherung im Team und die tägliche Analyse der geleisteten Arbeit in kurzen Meetings, den sogenannten „Dailies“. So steigen auch Motivation und Qualität. Kombiniert mit ihren bewährten Methoden für schlankes Bauen, konnten die Berater in den ersten Pilotprojekten die gewünschte Beschleunigung nachweisen.

Zur Beschleunigung trägt auch der knapp zwei Quadratmeter große Touchscreen-Planungstisch bei. Auf ihm können die Projektmanager über digitale Plattformen auf sämtliche Projektdaten zugreifen und prüfen, ob die einzelnen Arbeitsschritte konsistent und im Zusammenspiel miteinander „kollisionsfreies“ Arbeiten vor Ort ermöglichen – lange bevor der erste Bagger die Schaufel in den Boden des Rheintals senkt. „Ich sehe sofort virtuell, wie sich Gleis und Brücke zueinander verhalten“, sagt Langefeld. Hier arbeiten die Planer workflowbasiert; hier erkennen sie, ob vielleicht ein Oberleitungsmast zu nah am Widerlager eines Brückenpfeilers zu stehen kommt oder ob ein Brückenpfeiler in eine Kostenaufstellung gerutscht ist, in die er nicht gehört.

Hier berücksichtigen die Planer auch die zusätzliche Komplexität, die sich daraus ergibt, dass „unter dem rollenden Rad“ gearbeitet werden muss, also während des Bahnbetriebs. Deswegen müssen Sperrzeiten beim Bau beachtet und vorübergehende Hilfskonstruktionen wie verschwenkte Gleisführungen um die Baustelle herum mit eingeplant werden. Am riesigen Screen erscheint die Landschaft aus beliebiger Perspektive mal mit, mal ohne Neubauten – einfach per Wischen oder Mausklick. Zum virtuellen Erleben der Planung gehen Porjektbeteiligte und Projektbetroffene, wie zum Beispiel Gemeindevertreter und Bürger in den CAVE-Room. Hocker, Tisch und eine Art Besuchertribüne liegen höhlenartig im Dunkeln. Aber den Raum dominiert eine helle Projektionsfläche an einer halbrunden Wand und auf dem Boden davor. Auf diesen stellt sich der Besucher. Zwei wichtige Utensilien muss er vorher anlegen: eine 3D-Brille und Filzpantoffeln wie bei einer Barockschloss- Besichtigung. Statt Parkett gibt es hier einen nicht minder kostbaren Boden-Monitor. So taucht der Betrachter in die Landschaft ein und sieht bereits den fertigen Zustand – bei Bedarf sogar von unten.

Der Nutzer simuliert seine Bewegungen mit einem „Flight Stick“, einem drahtlosen Joystick-Pointer, mit dem er auch auf ein optional einzublendendes Menü klickt. Im Maßstab 1:1 kann er sich auf dem Bahnsteig eines neuen Haltepunkts umschauen und durch die Unterführung gehen. Oder er „stellt sich“ auf freier Strecke zwischen die Gleise. Da entdeckt er neuartige Lärmschutzeinrichtungen, die bis über den Gleiskörper reichen und so Schallwellen absorbieren, die sich andernfalls über die senkrechten Wände in Richtung Anwohner ausbreiten würden. Solche Galerien entstehen an der Neubaustrecke im Rheintal erstmals, erklärt Langefeld: „So kann bereits jetzt ein Eindruck vermittelt werden, wie der übergesetzliche Lärmschutz aussehen wird.“

Ziel der DB Netz ist, mit der digitalen 3D-Planung von Objekten Planungsfehler zukünftig früher zu erkennen und damit Fehlleistungen und Zeitverzug zu vermindern. Weiterhin wird durch die Verknüpfung der Planung mit Terminen und Kosten das Projektmanagement professionalisiert. Langfristig sollen durch die Adaption von vorhandenen Planungen die Planungszeit noch weiter reduziert und die Planungsdaten auch für „BIM im Betrieb“ eingesetzt werden.

Verknüpft mit künstlicher Intelligenz, erleichtern die digitalen Daten eines Tages Betrieb und Unterhaltung der Infrastruktur. Dann kann die Streckenkontrolle vor Ort Tunnel oder Brücken untersuchen, indem sie Schadstellen mit dem Tablet fotografiert und dokumentiert. Aus den Daten wird automatisch ein Reparaturvorschlag generiert, der schon Zeit- und Kostenplan enthält. Für die künftigen Entwicklungen ist der Austausch mit anderen Pilotprojekten und Firmen wichtig. Dazu müssen aber Standards gesetzt werden, vor allem bei den Schnittstellen. Die Deutsche Bahn als größter Infrastruktur-Investor Europas „ist hier Innovationstreiber und wird auch in der Branche positiv wahrgenommen“, so Langefeld.

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Foto: Porsche Consulting GmbH

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